Glatte, alabasterartige Haut umspannt seine filigranen Finger, mit denen der Mann das hartgekochte Ei abpellt. Elegante, fast weibliche Nägel heben die Schale an, sie bricht, jedes Mal ein kaum hörbares Knack, dann rieseln kleine Kalkstückchen geräuschlos auf den dicken Teppich. Er steht an dem großen Fenster, in einem burgunderroten Samtsakko über dem schwarzen Rollkragenpullover, der verdeckt, was niemand sehen soll. Sein Blick scheint sich zu verlieren im Abendhimmel, den ein aufziehendes Gewitter mit bedrohlichem Schwarz zu überziehen beginnt. Gierig schlucken düstere Wolkenberge das letzte Licht, dann ein erstes, noch fernes Grollen.
Das Ei, denkt der Mann fasziniert, wie schön es doch ist. So weiß. So rein. Das ursprünglichste Symbol in der Matrix des Lebens.
Leben.
Sterben.
In seinem Kopf hallen die Worte nach. Dann fahren seine Gedanken wie in einem Aufzug nach unten, ganz tief in die Kammer, in der einmal seine Seele wohnte. Doch dort ist schon lange nichts mehr. Es hätte nicht soweit kommen müssen. Er hätte umkehren können, die Chance dazu war da. Doch er hat es nicht getan – und mittlerweile ist es zu spät.
Ein angedeutetes Kopfschütteln scheint die uralte Vergangenheit abzustreifen wie eine Schlangenhaut, jetzt lächelt der Mann und beißt in das Ei. Seine Zähne schneiden durch die wachsweiche Masse. Er kaut, ganz langsam, schluckt und dann dreht er sich um, in der fließenden Bewegung einer zum Leben erweckten Bronzestatue von Auguste Rodin. Beschwingt geht er – fast schwebt er –, ins Schlafzimmer, um ein paar Sachen zusammenzupacken.

Er weiß jetzt, wo er Laura Martin finden kann. Und mit ihr das große Geheimnis, das die Wissenschaftlerin scheinbar entschlüsselt hat, und das alles verändern würde: Politik, Kriege, die Börsen, Religionen, die ganze verdammte Welt und – nicht zuletzt –, auch sein eigenes Schicksal. Was Laura Martin gelungen war, würde die Jahrtausende alten Gesetzmäßigkeiten der Erde wie Sandkörner im Wind vor sich hertreiben. Es würde sie durcheinanderwirbeln, aus ihren Bahnen schleudern und sie schließlich zerstören. Alles würde infrage gestellt und neu geordnet werden. Niemals durfte das geschehen, es ging – buchstäblich –, um Leben und Tod. Wie hübsch, denkt der Mann, Leben und Tod, die Metapher gefällt ihm.

Er musste – und er würde die Dinge regeln. Vor ein paar Stunden hatte er damit angefangen und Lauras bester Freundin einen Besuch abgestattet. Der Journalistin dürfte es nach der Begegnung mit ihm nicht allzu gut gehen; genauer gesagt, muss sie vermutlich für den Rest ihres Lebens einen gut gemixten Psychopharmaka-Cocktail schlucken, um die Dämonen im Zaun zu halten, die in ihrem Kopf wüten, seit der Mann ihr seine Identität offenbart hat.
Oh ja, ihm gefallen die noch frischen Erinnerungen: Er hatte der Frau zärtlich eine verschwitze Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht gestrichen, während er in ihr Ohr flüsterte; dann hatte er in ihre flehenden Augen gesehen und den grausamen Tanz genossen, den Panik und Unverständnis dort tanzten. Bis sie schließlich, in einem Schwall aus Worten und Tränen und Blut, wieder und wieder gekeucht hatte, was er hören wollte:
„Avignon. Ich glaube, Laura ist in Avignon.“